Es war einmal ein kleines Mädchen mit dem Namen Momo. Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war Zuhören.
Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Stress, Hektik und die digitalen Medien verhindern, dass wir einander wirklich zuhören.
Sechsundneunzig Prozent der Erwachsenen halten sich Umfragen zufolge für gute Zuhörer. Subjektiv allerdings haben immer mehr Menschen das Gefühl, dass ihnen keiner wirklich zuhört. Und objektiv halten uns Smartphones, Stress und Hektik systematisch von Begegnungen ab, in denen wir einander in Ruhe zuhören.
Dabei ist es einer der großen, unerfüllten Wünsche, dass jemand sich aufrichtig für das interessiert, was wir zu sagen haben. Wobei es natürlich immer die anderen sind, die zuhören sollen und es nicht können.
Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß einfach nur da und hörte zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Zuhören aktiviert die gleichen Hirnareale wie Sex…
Zuhören erscheint deutlich anspruchsvoller als Reden. Neurowissenschaftliche Studien der Harvard University haben gezeigt, dass Reden – vor allem über sich selbst – die gleichen Hirnareale wie Nahrung, Geld und Sex aktiviert. Sprechen befriedigt also existenziell und belebt entsprechend. Zuhören dagegen ist harte Arbeit. Es ermüdet, aufmerksam zu bleiben und so am Gelingen des Gesprächs mitzuwirken. Zumindest anfangs und in ungeübtem Zustand. Doch wenn man lernt, „aktiv zuzuhören“, verändert es, wie wir uns selbst und unsere Gesprächspartner erleben.
Momo konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder das Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder das Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. So beschrieb der Kinderbuchautor Michael Ende die Kunst des Zuhörens in seinem Märchenroman „Momo“.
Aber wie entfaltet Momo derartige Potenziale in den Menschen?
Sicher nicht, indem sie möglichst stillhält und abwartet, bis der Sprechende endlich fertig ist. Ihr Zuhören scheint an dem, was ausgesprochen wird, mitzuwirken. Die Qualität des Sprechens erwächst aus der Qualität ihres Zuhörens. Um Bedeutsames und Wirkungsvolles zu sagen, muss Raum zum Sprechen sein. Dieser Raum wird durch intensives Zuhören erzeugt und dem Sprecher von den Anwesenden gegeben. Diese Art des Zuhörens geht hinaus über das übliche Sichzuwenden, Blickkontakt, Nicht-unterbrechen.
Eine Person, der wirklich zugehört wird, erlebt dies nicht nur als hohe Wertschätzung, sondern als Inspiration für schöpferische Gedanken. Für die Zuhörenden eröffnet wahrhaftes Zuhören eine einzigartige Perspektive auf eine größere Realität: beide erkennen etwas, das sie allein niemals entdeckt hätten.
Der Bedarf an erfüllenden Gesprächen wächst. Befriedigung durch Nahrung, Geld und Sex genügt nicht. Und auch das normale, selbstbezogene Sprechen befriedigt nur äußerlich. Immer mehr Menschen fehlt es an Nahrung für die Seele. Allein dadurch, dass ich innerlich bereit bin, dem Anderen Zeit zu geben, indem ich zuhöre und nicht spreche, allein dadurch werte ich den Anderen
auf, allein dadurch gebe ich ihm zu verstehen, dass er eine Bedeutung hat. Allein dadurch kann ich ihn sogar heilen, indem ich ihm zuhöre.
Wenn man mir zugehört und mich verstanden hat, dann ist es mir möglich, meine Welt auf neue Weise zu sehen und weiterzumachen. Es ist erstaunlich, wie Dinge, die unlösbar erscheinen, lösbar werden, wenn jemand zuhört; wie sich Verwirrungen, die unentwirrbar scheinen, in relativ glatt fließende Ströme verwandeln, wenn man gehört wird. Ich bin zutiefst dankbar für die Zeiten, da mir dieses einfühlsame, konzentrierte Zuhören zu Teil wurde.
Wie geht es dir?…
… möchte ich das wirklich hören? Wie geht es mir – möchte ich das wirklich spüren? Will ich, dass mir jemand so zuhört, dass ich spüre, wie es mir geht?
Der amerikanische Psychologe und Therapeut Carl Rogers verbrachte sein Leben mit diesen Fragen. Ihm galt der Mensch als einzigartig und im Grunde gut. Wesentlich für sein humanistisches Weltbild ist ein prinzipielles Wohlwollen in Beziehungen. Emotionale und nonverbale Bereiche sind dafür genauso wichtig wie rationale.
Kann ich die Klänge der inneren Welt meines Gegenübers hören und deren Gestalt erahnen? Kann ich mit seinen Worten so tief mitschwingen, dass ich nicht nur die Bedeutungen spüre, deren er sich bewusst ist, sondern auch jene, vor denen er Angst hat und die er dennoch mitteilen möchte?
Wenn wir wirklich einmal zuhören, kann es spannend werden. Aber anders als im Thriller oder Action-Film. Wir konsumieren nicht, sondern sind ganz Ohr und arbeiten als Zuhörende wesentlich an der Spannung mit. Wir treten ein in den Alltag und in die seelische Welt eines anderen. Und das hat Konsequenzen:Wenn ich einen Menschen und die Bedeutungen, die in diesem Augenblick für ihn wichtig sind, wirklich höre – nicht bloß seine Worte, sondern ihn – und wenn ich ihm zu erkennen gebe, dass ich seine privaten, ganz persönlichen Bedeutungen aufgenommen habe, dann geschehen viele Dinge.
Wenn du einen anderen Menschen wirklich verstehst; wenn du bereit bist, in seine private Welt einzutreten und wahrzunehmen, was das Leben für ihn bedeutet, ohne dabei zu versuchen, Werturteile zu fällen; dann läufst du Gefahr, selbst verändert zu werden. Es könnte sein, dass du die Dinge plötzlich auch so siehst; du könntest entdecken, dass du in deinen Einstellungen oder in deiner Persönlichkeit beeinflusst wirst. Dieses Risiko, verändert zu werden, gehört zu den schrecklichsten Vorstellungen, die die meisten von uns sich denken können.
Ohne Stille in mir ist kein Zuhören möglich
Wenn wir einem Menschen zuhören, dann ist die Voraussetzung zum Hören immer Stille. Wir können nicht ohne Stille hören, wir müssen einen Raum der Stille irgendwo innerlich erzeugen können, um überhaupt hören zu können. Wenn dieser Raum der Stille da ist, dann muss man ein Stückchen einschlafen für seine eigenen Gedanken und Gefühle, und wie welches Länderspiel vielleicht ausgegangen ist. Man muss ein bisschen für sich selbst einschlafen, um diese Schwelle zum anderen Menschen wie zu überschreiten und für ihn zu erwachen.
Für mich ist schöpferisches, aktives, sensibles, genaues, einfühlsames, nicht bewertendes Zuhören in einer Beziehung ungeheuer wichtig. Es ist mir wichtig, es zu geben; es ist mir, besonders zu bestimmten Zeiten meines Lebens, äußerst wichtig gewesen, es zu erhalten. Ich habe das Gefühl, innerlich gewachsen zu sein, wenn ich es gegeben habe; ich bin ganz sicher, gewachsen zu sein, erlöst und befreit, wenn man mir auf diese Art zugehört hat.
Aufmerksames Zuhören ist wie der Mutterboden für neue Inspiration. Und wir können dann hören, wenn wir uns richtig gut innerlich um etwas bemühen und dadurch inspirationsfähig werden für das, was an neuer Idee auftauchen kann.
Wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt, und er ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und das er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.
Vermutlich sehnen wir uns alle nach so einer Momo. Und manche sehnen sich auch danach, so zuhören zu können wie sie. Dieser Wunsch ist ein Impuls für die Entfaltung eigener Möglichkeiten: Was ich nicht bewundern kann, kann ich nicht werden. Das hat ja schon was, dass wir Vorbilder brauchen, wenn wir uns entwickeln wollen, Menschen brauchen, auf die
wir hinschauen und hinaufschauen. Damit wir in uns entdecken, was wir da sehen und uns da hin entwickeln können.
Momo hörte allen zu, den Hunden und den Katzen, den Grillen und Kröten, ja, sogar dem Regen und dem Wind in den Bäumen. Und alles sprach zu ihr auf seine Weise. An manchen Abenden, wenn alle ihre Freunde nach Hause gegangen waren, saß sie noch lange allein in dem großen steinernen Rund des alten Theaters, über dem sich der sternenfunkelnde Himmel wölbte, und lauschte einfach auf die große Stille. Dann kam es ihr so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmuschel, die in die Sternenwelt hinaus horchte.
Hörst auch du was deine Sterne dir flüstern?
Buch: Michael Ende „MOMO“
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